Pascal Richmann: Merrit Island, Florida Pascal Richmann: Merrit Island, Florida

Euch trennt ein Flur. Und der Flur, der Euch trennt, führt zu den Räumen, in denen Ihr Euch, vor Spiegeln stehend, betrachtet. Du, der auf der Herrentoilette seine Arme hebt und dabei tellergroße Schweißflecken auf Achselhöhe bemerkt, trägst den Namen Attila; und Du, die auf der Damentoilette einen Schmollmund formt, um sich rot die Lippen nachzuziehen, Du heißt Jessica. Ihr seid die Gewinner. So etwas setzt genauso viel Glück voraus, wie es später nach sich zieht. Es gibt nur glückliche Gewinner, unglückliche gibt es nicht.

Du, Jessica, glaubst an die Formulierung, dass manche vom Glück verfolgt werden, und daran, dass etwas Bedrohliches darin liegt. Du denkst an Deine Schwester, die sich vor ihrem Glück nicht verstecken kann, ihre aristokratischen Wangenknochen lassen das nicht zu, und deshalb amtiert sie im vierten Jahr als Weinkönigin von Neuwied, so lang wie keine andere zuvor. Sie ist unwiderstehlich, aber Du, Jessica, bist es nicht, obwohl Du jünger bist, was nichts ändert, weil die Spanne der Attraktivität, die zwischen euch liegt, eine ebenso unüberwindbare ist wie die des Alters. Du hast gehört, dass die Menschen, als sie anfingen, die Welt zu entdecken, von der Annahme ausgingen, dass jedes Volk, das sie unzivilisiert vorfanden, sich irgendwann bis zur höchstmöglichen Stufe des Daseins entwickeln würde; und dass sie diese Stufe mit ihrem eigenen Status Quo gleichsetzten, war nur konsequent, und dass sie nicht warten wollten, bis sich die Barbaren ihre Stäbchen freiwillig aus den Nasen ziehen, war es auch. Dich erleichtert das, weil es bedeutet, dass nicht notwendigerweise alles an einem gemeinsamen Punkt endet. Deine Schwester jedenfalls ist sehr weit von Dir entfernt, in ihrem Alltag als Weinkönigin von Neuwied, wo sie mit ihrer Krone in einem Möbelcenter sitzt, um Autogramme zu schreiben, bevor sie Federweißer trinkt, mittags um zwölf, den Arm in alten Männern verhakt.

Adel verpflichtet, denkst Du, und legst den Lippenstift auf den Waschbeckenrand. Der Jetlag hat Dir fliederfarbene Halbmonde unter die Augen gezeichnet. Halogenlicht scheint auf Dich hinab, Du erkennst jede Hautunreinheit, die geweiteten Poren, die dunklen Stecknadelköpfe der Mitesser. Das ganze fettig schimmernde Desaster. Um Dich zu beruhigen, schiebst Du die Schuld auf die ungewohnt hohe Luftfeuchtigkeit. Die Klimaanlage der Damentoilette summt leise. Hier regeneriert sich Dein Teint.

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